Lernende Organisation: Mehr Schein als Sein?
Liest man über die lernende Organisation, scheint das Konzept das ideale Unternehmen zu beschreiben: erfahrene Mitarbeitende, die perfekt zusammenarbeiten, alle ein gemeinsames Ziel verfolgen und immer bereit sind, Neues zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Sucht man dann nach einem Manual zur Umsetzung dieser Traumorganisation, scheint das theoretisch perfekte Bild etwas ins Wanken zu geraten. Ist die lernende Organisation mehr Schein als Sein? Trotz der Schwierigkeit, das eher unspezifische Konzept der lernenden Organisation über reale Unternehmen zu stülpen, kann aus den grundlegenden Ansätzen doch einiges angepasst und übernommen werden.
Die 5 Disziplinen der lernenden Organisation
Die Grundannahme einer lernenden Organisation ist laut deren Gründervater und Senior Lecturer of Behavioral and Policy Sciences am MIT Peter M. Senge (2006) die, dass nur Organisationen, die flexibel, anpassungsfähig und produktiv sind, in einer Welt des schnellen Wandels bestehen können. Dieses Konzept umfasst dabei die Entwicklung und den Austausch von Wissen sowie kontinuierliche Verbesserungen und Transformationsprozesse.
Eine ideale lernende Organisation weist ein Klima auf, in dem Mitarbeitende die Möglichkeit haben, sich zu entfalten und ihre Potenziale auf allen Ebenen voll auszuschöpfen. Diese Lernkultur soll dann auch auf Kunden und andere Stakeholder ausgeweitet werden. Senge beschreibt dabei in seinem Buch „Die fünfte Disziplin“ mehrere Aspekte, die eine lernende Organisation haben muss.
Personal Mastery
Laut der ersten der fünf Disziplinen brauchen Mitarbeitende die Kompetenzen zur Selbstführung und Persönlichkeitsentwicklung. Dies wird als Prozess angesehen, in dem immer wieder neu geklärt wird, was einem wichtig ist und wo die Prioritäten liegen. Das Lernen erfolgt kontinuierlich und die gegenwärtige Realität wird deutlich wahrgenommen. Je nach derzeitigen Anforderungen der Umwelt und der eigenen Bedürfnisse, werden Fähigkeiten erweitert und angepasst. Das A und O dieses ständigen Lernens ist eine grundlegende Professionalität sowohl im persönlichen als auch im beruflichen Miteinander. Dieses Lernen erfolgt als Resultat innerer Bedürfnisse und beinhaltet materielle, soziale und persönliche Facetten. Als „Creative Tension“ beschreibt Senge dabei die Diskrepanz zwischen der individuellen persönlichen Vision und der aktuellen Realität, die mittels zweier Handlungsmöglichkeiten überwunden werden kann: Einerseits kann die Vision herabgesenkt werden, andererseits kann auch die Realität an die Vision angepasst werden.
Mental Models
Eines der Hauptprobleme, mit denen sich lernende Organisationen konfrontiert sehen, ist das Scheitern neuer Ideen und Sichtweisen. Dies kann laut Senge zurückgeführt werden auf tief verwurzelte innere Vorstellungen, die uns an der Umsetzung neuer Denk- und Handlungsweisen hindern. Diese Befürchtungen sind meist unbewusst, beeinflussen aber aktiv unser Verhalten. Um diese Ängste zu überwinden, ist ein gewisses Maß an Reflexions- und Erkundungsfähigkeit unabdingbar.
Shared Vision
Eine wichtige Voraussetzung, um als lernende Organisation bestehen zu können, ist eine geteilte Vision der Mitarbeitenden und Führungskräfte. Diese entsteht aus gemeinsamen Zielen, die die Mitarbeitenden kreieren oder erreichen wollen und die aus gemeinsamen Interessen und einem Gefühl der Sinnhaftigkeit und der Zugehörigkeit entstammen. Ist diese Vision vorhanden, fördert sie die Bereitschaft, Risiken einzugehen und Experimente zu wagen. Diese Bindung der Mitarbeitenden an die Organisation stärkt auch deren Wille, neue Ideen und Sichtweisen einzubringen. Geschaffen werden diese geteilten Ziele durch die Förderung der persönlichen Visionen der Mitarbeitenden, und in Folge dessen die Übertragung dieser eigenen Ziele auf die gesamte Organisation. So wird aus vielen privaten Visionen eine gemeinsame.
Team Learning
Aus dieser geteilten Vision einer Organisation ergibt sich auch das Lernen im Team. Senge sieht Team Learning dabei als einen Prozess, der die Fähigkeit eines Teams, die angestrebten Ziele zu erreichen, kontinuierlich erweitert. Um diese Disziplin zu meistern, bedarf es der Erfüllung von drei Voraussetzungen: den Aufbau gemeinsamer Visionen, die Erfüllung von Personal Mastery und die Fähigkeit von Individuen, gemeinsam arbeiten zu können. Ist ein Team gut ausgerichtet, entsteht dabei eine einheitliche Richtung und damit weniger Verschwendung von Energie. Um im Team effektiv arbeiten und kommunizieren zu können, sollten die Teammitglieder Techniken des Dialogs und der Diskussion beherrschen.
Systems Thinking
Senge sieht Organisationen als unsichtbare Gewebe von zusammenhängenden Handlungen an. Diese besitzen komplexe Strukturen, weshalb Effekte und Wirkungen oft erst nach langer Zeit deutlich werden. Um die übergreifenden Muster zu erkennen, soll Systemdenken förderlich sein. Dies verhindert auch die isolierte Sichtweise auf einzelne Teile des Systems und schafft Möglichkeiten zur Veränderung von Systemproblemen.
Zu schön, um wahr zu sein?
So viel zur Theorie einer lernenden Organisation. Wie die meisten weit verbreiteten, viel diskutierten theoretischen Ansätze ist auch das Konzept der lernenden Organisation ein viel umstrittenes. Eines der Hauptprobleme der lernenden Organisation ist die begriffliche Unklarheit und unzureichende Differenzierung. Das erste Buch von Senge zum Thema lernende Organisation wurde Anfang der Neunziger Jahre veröffentlicht und seitdem wurde das Konzept immer weiterentwickelt. Trotz dieser jahrzehntelangen Forschung sind die Begrifflichkeiten und genauen Definitionen nur unzureichend ausgebildet. Je nach Auslegung und Forschungsrichtung kann eine lernende Organisation völlig verschiedene Konzepte beschreiben. Die Psychologie beispielsweise legt einen stärkeren Fokus auf die Lernprozesse von Individuen, während in der Systemtheorie Organisationen eher als Ganzes betrachtet werden. Viele der sehr theoretischen Beschreibungen sind damit praktisch schwer nachzuvollziehen und umzusetzen.
In der Realität sehen viele Unternehmen auch schlicht keinen Grund, eine lernende Organisation zu werden. Dies kann zum einen daran liegen, dass die Notwendigkeit des Lernens nicht gesehen wird oder auch dass eine Unternehmensstruktur, die keinen Freiraum für Lern- und Reflexionsprozesse zulässt, dies verhindert. Zum anderen sind Auslöser von Veränderungen in der Unternehmenskultur oft Krisen. Durch Krisen wird oft bewusst, dass bestimmte Probleme im Unternehmen herrschen, die gelöst gehören. Erfolgreiche Unternehmen neigen dagegen dazu, sich auf ihrem Erfolg auszuruhen und alles beim aktuellen Ist-Zustand zu belassen. Dies funktioniert so lange, bis sich ein Krisenfall ausbreitet und hektisch nach Verbesserungsmöglichkeiten gesucht wird, um den Platz am Markt beizubehalten.
Dennoch kann die Umsetzung einer lernenden Organisation in der Praxis durchaus Erfolge verbuchen. Beim Automobilhersteller Opel konnte beispielsweise eine Produktivitätssteigerung von 70% erreicht werden, die auf eine konsequente Projektleitung mit Eigenschaften einer lernenden Organisation zurückgeführt werden kann. Microsoft setzt ebenfalls auf die Potenzialausschöpfung seiner Mitarbeitenden und bedient sich einer Methode, die das Unternehmen „Brainshaking“ taufte. Damit manche Mitarbeitende nicht gegenüber anderen bevorzugt werden, werden Ideen anonym eingereicht und anschließend von zufällig zugeteilten Teams auf Pro- und Kontra-Argumente hin überprüft. Um diese Aufgabe erfolgreich umzusetzen, bedarf es der Erfüllung aller fünf von Senge aufgestellten Disziplinen, was dazu beiträgt, dass Microsoft eine sehr flexible, marktbeständige Organisation ist.
Fazit zu lernende Organisation
Die Idee der lernenden Organisation existiert nicht erst seit gestern. Bereits seit drei Jahrzehnten wird dieses Konzept weiterentwickelt, diskutiert und auch kritisiert. Der theoretische Ansatz einer lernenden Organisation bringt für viele Bereiche und Umfelder durchaus Vorteile, denn auf sich wandelnde Umstände agil reagieren zu können, ist in der Arbeitswelt 4.0 für ein langfristiges Bestehen unabdingbar. Trotzdem ist die Umsetzung in der Praxis oft ein langwieriger und schwieriger Prozess, weil häufig die nötigen Voraussetzungen sowohl auf ökonomischer als auch auf sozial-psychologischer Ebene, wie Angst vor Ungewissheit und Veränderung, nicht gegeben sind. Werden die einzelnen Konstrukte auf die individuellen Gegebenheiten angepasst oder auch nur einzelne Bereiche umgesetzt, können Unternehmen von einer flexiblen, lernfähigen und teamorientierten Struktur in jedem Fall profitieren.
Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Hört man damit auf, treibt man zurück.
von Laotse, chinesischer Philosoph
Literatur:
Senge, P. M. (1990). The Fifth Discipline: The Art and Practice of the Learning Organization. New York: Double Day.
Senge, P. M. (2006). Die Fünfte Disziplin. New York: Klett-Cotta.
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