Reziprozität: Das Gesetz der Gegenseitigkeit
Hilfst du mir, helfe ich dir. Nach diesem Leitsatz funktioniert das menschliche Zusammenleben schon seit Jahrtausenden. Das Gesetz der Gegenseitigkeit begleitet uns in allen Lebenslagen und ist doch etwas, das uns meist nicht bewusst ist. Völlig intuitiv versuchen wir, Gefallen zu erwidern und Hilfsbereitschaft zu zeigen, da wir dieses Verhalten auch von anderen erwarten. Reziprozität ist der wissenschaftliche Ausdruck für eben jenes menschliche Verhalten, das in der Sozialwissenschaft und Ethnologie als universelles soziales Prinzip gilt. Dieser Effekt wird wegen seiner subtilen Funktionsweise jedoch gerne auch ausgenutzt. Vor allem im Marketing und in der Werbung gibt es geschickte Tricks, Menschen in Kauflaune zu versetzen. Welche psychologischen Mechanismen hinter Reziprozität stecken und wie man Manipulationsversuche erkennen und verhindern kann, lesen Sie im neuen Artikel von zweikern.
Wie du mir, so ich dir
Reziprozität (ursprünglich lateinisch für zurückfließen, zurückkehrend) ist ein Grundsatz menschlichen Verhaltens, der auf Gegenseitigkeit beruht. Für unser soziales Zusammenleben ist dieses Prinzip wichtig, da wir oft auf Gefallen anderer angewiesen sind. Im Gegenzug fühlen wir uns meist verpflichtet, eine Gegenleistung zu erbringen. Dieses Prinzip von „eine Hand wäscht die andere“ kann sich in vier Formen ausdrücken, die sozialpsychologisch unterschieden werden. Die erste Form ist die direkte Reziprozität, bei welcher ein Gefallen mit einer zeitlich naheliegenden Gegengabe erwidert wird. Der Tauschhandel würde beispielsweise in diese Kategorie fallen. Die zweite Form ist die generalisierte Reziprozität, die sich durch eine längere zeitliche Distanz zwischen Gabe und Gegengabe auszeichnet. Ein Beispiel hierfür wäre die Betreuung pflegebedürftiger Eltern durch ihre Kinder, welche in den ersten Jahrzehnten ihres Lebens von den Eltern unterstützt wurden.
Eine Sonderform bilden reziproke Rollenbeziehungen. Hierbei gibt es in einem sozialen Rollensystem einen Gegenpart zu einer Rolle, ohne welcher die Rolle nicht bestehen könnte. Eine Führungskraft könnte beispielsweise ohne ein zu führendes Team diese soziale Rolle nicht ausüben. Zuletzt spricht man von Reziprozität der Perspektive, wenn der Standpunkt eines anderen Menschen eingenommen wird. Hinter diesen Prinzipien steht stets das menschliche Bedürfnis nach einem harmonischen, in Balance stehenden Miteinander in jeglichen Lebensbereichen. Im Alltag drückt sich dies vor allem in Worten und Gefälligkeiten, aber auch durch Geschenke und in Werbungen aus. Das Marketing in Unternehmen hat die Macht der Gegenseitigkeit längst für sich entdeckt und bewegt mithilfe der Reziprozität durch Gratisproben und Geschenke Kunden dazu, mehr zu kaufen.
Von Höhlenmenschen und dem Benjamin-Franklin-Effekt
Aber was passiert in uns, wenn dieses Bedürfnis nach Reziprozität erzeugt wird? Evolutionär gesehen war dies ein enorm wichtiges Bedürfnis, dass es uns ermöglichte, in Gruppen zu leben und zu jagen und damit höhere Überlebenschancen zu garantieren. In erster Linie lebt dieser Effekt von Schuldgefühlen, die durch Gefallen entstehen. Dieses Gefühl, etwas zurückgeben zu müssen, wird meist von einer gewissen Dringlichkeit begleitet, die zur möglichst schnellen Schuldbegleichung führt. Zudem steigt durch einen erlebten Gefallen unsere Sympathie für das zuvorkommende Gegenüber. Begleichen wir die Schuld oder helfen aus freien Stücken jemand anderem, steigt unser Selbstwert und unsere Selbstwirksamkeit. Dieser Effekt macht es Unternehmen aber auch möglich, nach einem kleinen Gefallen eine größere Gegenleistung zu verlangen und uns so beispielsweise nach dem „Geschenk“ einer Weinprobe dazu zu bewegen, zwei Flaschen zu kaufen.
Warum fällt es uns oft schwer, andere um einen Gefallen zu bitten? Oft zögern wir, andere um Hilfe zu bitten, weil wir nicht zur Last fallen oder in einer Schuld stehen wollen. Wir haben Angst, unsympathisch und schwach zu wirken. In Wirklichkeit ist jedoch das Gegenteil der Fall: Lässt man sich von einer anderen Person helfen und einen Gefallen erweisen, wirkt man auf diese Weise automatisch sympathischer. Dieser Effekt wurde erstmals von Benjamin Franklin beschrieben und später durch Studien belegt. Der Grund dafür liegt darin, dass wir Sympathie als die Erklärung für unser Verhalten annehmen. Denn warum sonst würden wir einer fremden Person einen Gefallen tun? Das Gehirn trickst sich dabei also selbst aus. Auch dieser psychologische Effekt wird von Verkäufern und im Geschäftsleben genutzt, um Sympathien zu erzeugen.
Die Reziprozitätsfalle
Dieses tief im Menschen verankerte Bedürfnis wird also häufig auch ausgenutzt. Natürlich ist ein Gefallen oft einfach eine nette Geste, hinter der sich kein Hintergedanke versteckt. Trotzdem kann das Wissen über diesen Effekt auch im Berufsleben eingesetzt werden, um Fallen zu entgehen oder höhere Gehaltszuschüsse auszuhandeln. Im ersten Schritt hilft das Reflektieren über die persönlichen Motive hinter Handlungen, um zu erkennen, ob man aus Nettigkeit oder Schuldgefühl handelt. Gefälligkeiten, die etwa zum Kauf eines Produktes anregen sollen, können mit dem Wissen um Reziprozität angenommen werden, ohne aus einem Gefühl der Schuld heraus dann mehr Geld auszugeben, als man geplant hatte. So erspart man sich auf lange Sicht einiges an unnötigen Anschaffungen. Mit diesem Wissen kann man nicht nur Fallen entgehen, sondern auch eigene Vorteile erzielen. Fragen Sie erst nach einer Gehaltserhöhung von 15 Prozent, lehnen die Vorgesetzten dies vielleicht zuerst ab, sind dann aber viel eher geneigt, einer kleineren Zahl wie fünf oder zehn Prozent zuzustimmen.
Fazit zu Reziprozität
Wird zu wenig oder zu viel auf Gegenseitigkeit geachtet, gerät das Gleichgewicht außer Kontrolle. Zu wenig Reziprozität führt zu egoistischen Handlungen und dem Durchsetzen des eigenen Willens, auch wenn andere dabei zu Schaden kommen. Zu viel Hilfebereitschaft wiederum kann ein Helfersyndrom zur Folge haben. Werden dabei die persönlichen Bedürfnisse untergraben und vernachlässigt, kann das psychische Probleme verursachen. Eine Balance zwischen diesen Extremen zu finden, ist nicht immer einfach, ermöglicht aber ein friedvolles und angenehmes Miteinander.
Es sind nicht die großen Worte, die in der Gemeinschaft Grundsätzliches bewegen: Es sind die vielen kleinen Taten einzelner.
Von Mildred Scheel, deutsche Ärztin
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