Situative Führung: Individuell und flexibel zum Ziel
Gibt es den einen, perfekten Führungsstil? Auf diese Frage folgt meist eine sehr klare Antwort: Nein. Ob autoritär, kooperativ oder laissez-faire – jeder Führungsstil hat seine Stärken und Schwächen. Diese Erkenntnis machten der Verhaltensforscher Paul Hersey und sein Kollege und Unternehmer Ken Blanchard bereits in den 1960er Jahren. Deshalb entwickelten sie gemeinsam ein neues Modell von Führung: der situative Führungsstil. Dieser soll Mitarbeitende flexibel und individuell ans Ziel bringen.
Einheitsbrei der Mitarbeitenden?
Was macht nun situative Führung aus? Grundsätzlich analysiert die Chefin oder der Chef vor einer Handlung immer die Gegebenheiten der aktuellen Situation und des Gegenübers. Denn die Bedürfnisse von Arbeitnehmern sind so unterschiedlich wie sie selbst: Während ein Auszubildender meist wenig Basiswissen besitzt und genauere Anweisungen braucht, fordern erfahrene Mitarbeitende häufig mehr Freiheiten und Eigenverantwortung ein. Ein einziger Führungsstil, der alle Mitarbeitenden auf eine Stufe stellt, sorgt deshalb langfristig für Unzufriedenheit und suboptimale Leistungen.
Genau diesem Problem will sich situative Führung stellen, indem sie Mitarbeitende in ein Reifegradmodell einordnet und spezifische Führungskompetenzen für jeden Reifegrad vorschlägt. Dabei wird Führungsverhalten grundsätzlich in zwei Verhaltensdimensionen eingestuft, welche auf der Kontingenztheorie des Organisationspsychologen Fiedler aufbauen:
Aufgabenorientierte Führung legt den Fokus, wie der Name schon vermuten lässt, auf die Erfüllung von Aufgaben. Das Ziel ist dabei die Entwicklung von Kompetenzen der Mitarbeitenden. Klar formulierte Verantwortungsbereiche und Deadlines stehen dabei im Vordergrund.
Beziehungsorientierte Führung versucht dagegen, das Augenmerk auf den zwischenmenschlichen Beziehungsaspekt zu legen. Die Mitarbeitenden werden durch Lob, aktives Zuhören und Unterstützung zu mehr Eigeninitiative ermutigt.
Vier Führungsstile in einem
Je nachdem, in welchem Reifegrad die Führungskraft einzelne Mitarbeitende einordnet, passt sie auch das Führungsverhalten an. Um dieses Verhalten zu erreichen, werden Aufgaben- und Beziehungsorientierung kombiniert und an die Situation angepasst. Blanchard und Hershey teilen Mitarbeitende in vier Reifegrade ein und sprechen für jeden Grad Empfehlungen für das Verhalten von Führungskräften aus. Wichtig zu beachten ist, dass die Reifegrade sich nach den Fähigkeiten von Mitarbeitenden in bestimmten Aufgabenbereichen richten und nicht nach der Person als Ganzes.
1. Geringer Reifegrad: Anweisen
Ein Beispiel für Personen mit geringem Reifegrad wären Auszubildende. Sie besitzen noch wenig Fachwissen und ihre Motivation ist häufig gering. Detaillierte Arbeitsanweisungen und hohe Kontrolle bei der Ausführung helfen dem Mitarbeitenden, die fehlende Motivation zu überwinden und Kompetenzen zu erlernen.
2. Mittlerer Reifegrad: Überzeugen
Ist der Reifegrad des Mitarbeitenden etwas höher, wird die Beziehungsorientierung verstärkt. Entscheidungen trifft immer noch die Führungskraft, der Mitarbeitende wird aber mehr eingebunden und unterstützt. Entscheidungen sollten schließlich begründet und offene Fragen seitens der Mitarbeitenden geklärt werden.
3. Höherer Reifegrad: Partizipieren
Hier wird das befehlende, dirigierende Verhalten noch weiter reduziert und die Unterstützung der Mitarbeitenden nimmt zu. Die Aufgabenorientierung steht nicht mehr im Vordergrund, da schon einiges an Fachwissen und Selbstständigkeit vorhanden ist. Das Ziel hierbei ist es, als Führungsperson beratend zu handeln und Entscheidungsfindungen zu unterstützen.
4. Hoher Reifegrad: Delegieren
Mitarbeitende der höchsten Reifestufe agieren selbstständig und brauchen kaum noch Hilfestellungen durch die Führungskraft. Es braucht nur noch wenig Unterstützung, und Aufgaben können vermehrt delegiert werden. Die Vorgesetzten geben zwar die Ziele noch vor, die Erreichung dieser liegt aber vollkommen in der Hand des Mitarbeitenden. Sowohl die Aufgaben- als auch die Beziehungsorientierung sind hier also gering.
Kritikpunkte der situativen Führung
Einer der wichtigsten Vorteile des situativen Führens ist die gewonnene Flexibilität im Vergleich zu klassischen Führungsstilen. Die Mitarbeitenden sollen dadurch individuell nach dem Grad ihrer Eigenständigkeit gefördert werden. Zudem wird die Führungskraft entlastet durch das Abgeben von Verantwortung an „reife“ Mitarbeitende. So erhalten diese zwar zu Beginn noch vermehrt direkte Anweisungen, der Führungsstil versteift sich jedoch nicht darauf und gibt mit steigendem Können auch mehr Verantwortung ab.
Diese Flexibilität kann unter Umständen aber auch anstrengend sein für die Führungskraft, da die spezifische Situation und der Mitarbeitende immer erst analysiert werden müssen, bevor Handlungsstrategien eingesetzt werden. Richtiges Führungsverhalten setzt außerdem voraus, dass der/die Vorgesetzte immer richtig einschätzt, in welchem Reifegrad sich der Mitarbeitende gerade befindet. Passiert eine Fehleinschätzung, passt auch das Führungsverhalten nicht mehr und der Mitarbeitende könnte sich unfair behandelt fühlen. Eine zusätzliche Voraussetzung für die Umsetzung des situativen Führungsstils ist außerdem ein Verständnis für verschiedene Führungsstile, die die Grundbausteine für das Verhalten gegenüber den verschiedenen Reifegraden bilden. Für Personen, die neu im Führen sind und wenig Erfahrung in diesem Bereich haben, kann die Umsetzung einer situativen Führung deshalb schwierig sein.
Als weiterer wichtiger Kritikpunkt ist die fehlende Validierung des zugrundeliegenden Modells nicht außer Acht zu lassen. Können die Gütekriterien einer Theorie nicht nachgewiesen werden, ist die praktische Umsetzung ebenso fragwürdig. Dieses Problem wurzelt bereits in Fiedlers heftig kritisierter Kontingenztheorie (Führungsverhalten basiert auf Zusammenspiel zwischen persönlichen und Beziehungseigenschaften), die als Basis der situativen Führung gilt.
Dennoch konnten einige wichtige Punkte dieser Theorie durch Blank und Kollegen (1990) empirisch nachgewiesen werden. So fanden sie bessere Leistungen durch aufgabenorientiertes Führungsverhalten bei Mitarbeitenden mit niedrigerem Reifegrad und durch beziehungsorientiertes Verhalten bei mittlerem Reifegrad. Ebenso steigen die Leistung und Zufriedenheit von Mitarbeitenden, wenn der Führungsstil zum individuellen Reifegrad passt. Trotz der fehlenden Validierung scheinen also doch grundlegende Aspekte der Theorie praktisch umsetzbar zu sein.
Fazit zu situativer Führung
Das Anpassen des Verhaltens gegenüber Mitarbeitenden basierend auf deren Reifegrad, scheint intuitiv einleuchtend. Menschen verfügen in verschiedenen Bereichen über unterschiedlich stark ausgeprägte Kompetenzen und Eigenständigkeit. Ein One-size-fits-all-Ansatz der Führung scheint deshalb wenig sinnvoll. Situative Führung geht auf jeden Mitarbeitenden und dessen Fähigkeiten ein und fördert dadurch die Weiterentwicklung dieser.
Führung ohne Interesse am Menschen ist wie Schwimmen ohne Wasser. Man sitzt schnell auf dem Trockenen.
Von Carsten Bach, Berater und Autor
Literatur:
Blank, W., Green, S. G., & Weitzel, J. R. (1990). A test of the situational leadership theory. Personnel Psychology, 43(3), 579-597.
Hersey, P., Blanchard, K. H., & Natemeyer, W. E. (1979). Situational leadership, perception, and the impact of power. Group & Organization Studies, 4(4), 418-428.
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Kommentar von Jens Seitz |
Ich wusste nicht, dass diesem Ansatz teilweise die Validierung fehlt. Danke für diese Übersicht! Ich als Mitarbeiter habe kein Problem, wenn sich Partizipieren und genauere Anleitung (hier "Überzeugen" genannt) abwechseln. Manchal finde ich es auch gut, detailliertere Anweisungen zu bekommen, die man klar erreichen kann. Genauso finde ich es mit dem Delegieren: Es muss nicht jede Aufgabe delegiert werden, dass ich mich frei fühle. Wichtiger wäre mir dann, dass mir nicht suggeriert wird, ich sei der Schlechteste oder ein anderer der Beste des Teams.
Antwort von Selina Kern
Hallo Jens,
Vielen Dank für dein Feedback. Da bin ich ganz bei dir und finde ebenfalls, dass es genau das ist, was situative Führung so besonders macht: auf die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen zu können und frei zu kommunizieren.
Liebe Grüße,
Selina
Kommentar von Armin Münch |
"Passiert eine Fehleinschätzung, passt auch das Führungsverhalten nicht mehr und der Mitarbeitende könnte sich unfair behandelt fühlen" - Genau hier sehe ich das größte Problem. Sie sprechen von Reifegraden der Mitarbeitenden. Die Frage ist zusätzlich, wie reif muss die Führungskraft sein, um eine solche Einschätzung akkurat abgeben zu können. Dazu die Frage, inwiefern man die Einschätzung transparent diskutieren könnte, ohne (ggf. abwertende) Kategorien zu benennen? Vielen Dank für den spannenden Lesestoff!
A.M.
Antwort von Selina Kern
Hallo Armin,
Danke für dein Feedback! Diesen Aspekt sehe ich ebenfalls als problematisch an. Ich denke, dass Selbstreflektion und Erfahrung helfen können, bessere Einschätzungen zu treffen. Dabei ist es bestimmt auch wichtig, Entscheidungen zu begründen und dabei auf die individuellen Stärken von Mitarbeitenden einzugehen.
LG
Selina
Kommentar von Rauch |
Für mich ist der situative Führungsstil der optimale Weg, um Mitarbeiter zu motivieren und sie weiterzuentwickeln. Leider besteht die Gefahr der Fehleinschätzung bei Reifegrad eines Mitarbeiters gerade zu Beginn seiner Tätigkeit, wie im Artikel erwähnt. Wenn das passiert kommt es auf ein schnelles Reagieren an ohne dabei den Mitarbeiter zu demotivieren. Ein nicht immer leichter Weg.
Antwort von Selina Kern
Hallo Herr Rauch,
Danke für Ihren Kommentar. Da kann ich Ihnen nur zustimmen, denn geht man nicht nach Schema F vor und betrachtet jeden Mitarbeitenden als eigene Person, geht damit auch einiges an Verantwortung einher. Berufserfahrung, offene Kommunikation und schnelles Reagieren helfen dabei bestimmt weiter.
Liebe Grüße,
Selina