Wir > Ich: Ein Unternehmensmodell das glücklich macht
Gerhard Filzwieser ist der Geschäftsführer des Familienunternehmens „Industrietechnik Filzwieser“ aus Gaflenz in Österreich. Mit knapp 16 Millionen Euro Umsatz und ca. 100 Mitarbeitenden gehört das Unternehmen zu einem erfolgreichen Kunststoffverarbeiter.
Seine Art der Unternehmensführung ist unkonventionell und fußt darauf, dass es keine klassische Hierarchie gibt. Gerhard Filzwieser betrachtet sich als richtungsweisender Lotse des Unternehmens. Seine Organisation, auch poetisch „Wurzel und Flügel“ genannt, basiert auf einem eigenverantwortlichen Miteinander, in dem man sich auf Augenhöhe begegnen kann. Dieses Interview gibt einen Einblick in das Unternehmensmodell, das glücklich macht.
Herr Filzwieser, Sie veröffentlichen Anfang November Ihr Buch
"Unbequeme Gedanken Paradigmenwechsel(n) in der Unternehmenskultur".
Was hat Sie dazu bewogen, ein Buch zu schreiben?
Wenn man Dinge niederschreibt, geht man noch bewusster mit den Gedanken zum Thema Unternehmenskultur um. Die Verschriftlichung hilft außerdem dabei, meine Gedanken für andere zugänglich zu machen. Sowohl Mitarbeiter als auch Kunden verstehen meine Idee der Unternehmensführung besser, wenn Sie es nachlesen können und etwas in der Hand haben.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich sehr vielschichtige Thematiken, wie z. B. Selbstorganisation und Eigenverantwortung, besser in Form eines Buches vermitteln lassen, statt nur rein verbal kommuniziert.
Wann haben Sie diesen drastischen Wandel Ihres Unternehmens initiiert?
Der persönliche Wandlungsprozess geht nun schon fast 15 Jahre. Vor dreieinhalb Jahren hat dann der Wertewandel im Unternehmen Einzug gehalten. Hier habe ich dann ebenfalls gefragt, ob die Richtung, die wir eingeschlagen haben, die Richtige ist. Das war der Initiator dafür, dass wir uns eine neue Identität geschaffen haben.
Einen Maßnahmenkatalog für einen Unternehmenswandel gab es dabei nicht, sondern wir haben bewusst einen Schritt nach dem anderen gemacht. Ich war mir vorher auch nicht darüber bewusst, dass wir mit der Firma einmal bei einem selbstorganisierten Unternehmen ohne bzw. mit einer natürlichen Hierarchie landen.
Was ist mit der natürlichen Hierarchie gemeint?
Innerhalb des Arbeitsprozesses stehen wir immer wieder vor der Situation, dass es Thematiken gibt, deren Verantwortlichkeiten geregelt werden müssen. In solchen Fällen kristallisiert sich immer wieder jemand heraus, der sich für diese Aufgabe begeistert und sich dessen annehmen will. Der Mitarbeitende geht sozusagen voran.
Auf der anderen Seite gibt es einige Mitarbeitende, die sich von dieser Idee inspirieren lassen und schließen sich demjenigen, der vorangeht, an.
Diese Form der Hierarchie setzt eine Wertvorstellung voraus, die das Wir über das Ich stellt.
Wie werden die Verantwortlichkeiten in Ihrem Unternehmen festgelegt?
]Wir haben sogenannte „Verantwortungsfelder“ geschaffen. Das gesamte Unternehmen ist über diese Felder abgebildet, die Grundverantwortung somit eindeutig definiert. Der Verantwortungsbereich eines Feldes ist jedoch bewusst nicht eng abgegrenzt, sondern lässt Freiraum der individuell gefüllt werden kann. Neben dieser festgelegten Grundverantwortung geht es aber bei konkreten Aufgabenstellungen immer um die Frage „wer kann etwas beitragen, und wer ist davon betroffen?“. Da geht es dann neben der Verantwortung vor allem um die Frage, welche Fähigkeiten wir an dieser Stelle benötigen … unabhängig davon, wofür jemand verantwortlich ist.
Es ist aber ein Trugschluss, dass Eigenverantwortlichkeit impliziert, dass man machen kann, was man will. Das musste zunächst einmal klargestellt werden. Ich habe meinen Mitarbeitenden gesagt, dass diese Organisationsform ein Angebot meinerseits ist und ich das Vertrauen in meine Mitarbeiter habe, dass sie Ihre Verantwortlichkeit mit Leben füllen. Es liegt beim Mitarbeitenden, zu entscheiden, wie er/ sie seiner/ ihrer Verantwortung gerecht wird. Um den Weg in diesem Prozess nicht aus den Augen zu verlieren, sehe ich mich als richtungsgebenden Lotsen an.
In regelmäßigen Abständen werden dann so genannte „Saat und Ernte“-Gespräche geführt, um herauszufinden, ob Zwischenziele erreicht werden können. In diesen Gesprächen geht es um die Frage an den Mitarbeitenden, was er/ sie säen muss, um dann Erfolg in seinen/ ihren Arbeitsaufgaben ernten zu können. Dieser Anstoß ist meiner Meinung nach essenziell, damit man sich immer wieder in die Position der Selbstreflexion begibt. Für die Mitarbeitenden ist dies erst einmal unbequem und anstrengend, weil diese Selbstreflexion und Eigenverantwortlichkeit für einen Arbeitsprozess eine ganz andere Art des Arbeitens sind.
Denken Sie, dass sich jeder Mitarbeitende für die Idee des eigenverantwortlichen und selbstorganisierten Arbeitens begeistern kann?
Es gibt unterschiedliche Persönlichkeiten, die in unserem Unternehmen respektiert werden. Es gibt einerseits Menschen, die Lust haben, Neues auszuprobieren, sich zu entdecken und sich auf Verantwortlichkeit in Projekt einzulassen.
Andererseits gibt es Mitarbeitende, die ungerne Verantwortung tragen. Ich denke wir befinden uns gerade in einem Prozess, wo Mitarbeitende, die Verantwortung scheuen, schrittweise dazukommen können und die Möglichkeit haben, sich ins Team einzubringen.
Heißt das, dass in so einer Unternehmenskultur Teamplayer gefördert werden und Einzelkämpfer keinen Platz mehr finden?
Jein. Unabhängig von der Organisationsform braucht es aus meiner Sicht grundsätzlich ein „Wir“ und ein „Ich“. Die Menschen haben das Bedürfnis sich abzugrenzen, in dem Sinne, dass sie klar kommunizieren, womit sie leben und arbeiten wollen und womit nicht.
Innerhalb einer Kultur sollte diese Abgrenzung immer wertschätzend sein, d. h. das „Anderssein“ muss auch toleriert und akzeptiert werden. Für mich spielt eine interindividuelle, also zwischenmenschliche Vielfalt eine große Rolle, weil wir dadurch unsere Identität mit Leben füllen können. Menschen, die diese Vielfalt zu schätzen wissen, nehmen viel für die eigene Identitätsbildung mit. Menschen, die ihre eigene Perspektive als ultimativ ansehen, tun sich in einer solchen Kultur sehr schwer.
Wie sollte Arbeit für den Menschen Ihrer Meinung nach gestaltet werden?
Es gibt zwei Gründe, wieso Menschen für eine Organisation arbeiten. Zunächst einmal ist der materielle Aspekt der Arbeit von großer Bedeutung. Sprich, mit der Arbeit im Unternehmen schafft jeder Mitarbeitende seine Existenzgrundlage. Als Zweites sucht der Mitarbeitende nach Sinnstiftung in der Tätigkeit, die er ausführt. Er will sich entdecken und Freude haben an dem, was er tut. Arbeit hat also immer einen Leistungsaspekt und einen sinnstiftenden Aspekt.
Ist der Wandel in Ihrem Unternehmen eine Vorreiterrolle für andere Unternehmen?
Oder ist es der einzige Weg, ein Unternehmen menschlich zu führen?
Der Gedanke, dass vieles in unserem Leben nicht mehr richtig läuft, war der Initiator für den Wandel in meinem Unternehmen. Wir sollten uns zunehmend fragen, ob Wirtschaft, so wie wir sie betreiben, in die richtige Richtung führt und welche Rolle der Mensch dabei spielen soll.
Unser Unternehmenswandel ist ein Versuch, einen Weg zu finden, auf dem Spielfeld der Wirtschaft zu agieren und gleichzeitig die Beziehung zu den Mitarbeitern zu verändern. Ich habe das Gefühl, dass wir in einer Zeit angekommen sind, wo Unternehmen neue Wege des Umgangs mit den Menschen und dem Wirtschaftssystem finden müssen.
Für mich führt der Weg in diese Richtung - dabei gibt es aber keineswegs nur die eine oder zwei oder drei Patentlösungen, sondern jedes Unternehmen muss seinen Weg finden mit den Werten, die es leben will. Eine Checkliste für solch einen Wandel darf und wird es also nicht geben, sondern die Auseinandersetzung mit der inneren Haltung (Oder: Wertvorstellung) zeichnet den Weg der Organisation vor.
Was hat es mit der Bezeichnung „Wurzel und Flügel“ für Ihr Unternehmen auf sich?
„Wurzel und Flügel“ ist die Bezeichnung, die wir der Organisation gemeinsam gegeben haben. Die Wurzel stellt sozusagen die nachhaltigen Elemente dar: unsere Identität, die Werte, die wir vertreten und warum wir tun, was wir tun. Die Flügel stehen für alles, was in Bewegung ist, wie z. B. die Individualität und der Freiraum des Einzelnen.
Dieser Name stellt für mich eine Analogie zur Natur dar. Im Unternehmen selbst können wir nach natürlichem Vorbild viel von Anpassungsfähigkeit durch Vielfalt lernen.
Also würden Sie Ihr Unternehmen als agil bezeichnen?
Mir ist es ehrlich gesagt egal, was andere über das Thema Agilität schreiben und tun. Wichtig ist, dass wir machen, was sich für uns richtig anfühlt. Deshalb möchte ich unsere Organisation auch nicht „agile Organisation“ nennen, weil wir uns damit wiederum in ein Schubladendenken begeben würden, aus dem wir eben ausbrechen wollen.
Der Mensch ist nicht teilbar.
Jemand, der persönlich nicht in seiner Mitte ist, ist es auch im Job nicht.
Von Gerhard Filzwieser
Link: www.rosablau.at
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Kommentar von Anke |
Ein sehr schöner Artikel und ein wirklich tolles Unternehmensmodell.
Antwort von Katharina Raichle
Hallo Anke!
Vielen Dank für deinen Kommentar!
Ich hab das Unternehmensmodell auch als sehr spannend empfunden, obwohl es sicherlich nicht für jegliche Firmen adaptierbar ist. Trotzdem finde ich, dass Unternehmensmodelle abseits vom Mainstream immer wieder thematisiert und diskutiert werden sollten!
Liebe Grüße
Katharina